Der Kollemosch

„Wer hat Angst vorm Schwarten Mann?“
„Niemand“
„Wenn er aber kommt?“
„Dann laufen wir davon!“

Das Kinderlaufspiel scheint etwas aus der Mode gekommen, wurde ohnehin aufgrund politischer Korrektheit umbenannt in „Wer hat Angst vorm wilden Mann…“ oder „Wer hat Angst vorm weißen Hai…“. Dabei hat der Wahn politischer Korrektheit hier eine Formulierung verfemt, die überhaupt nichts mit Schwarzhäutigkeit zu tun hat sondern vermutlich die Angst vor dem „Schwarzen Mann“ als den „Schwarzen Tod“ beinhaltet – sprich: Die Pest.

Ein anderer, für Kinder oft furchteinflößender Schwarze Mann war der Kohlenmann, der Lieferant, der den Häusern mit dem Lieferwagen die Kohle brachte und diese oft unter lautem Getöse und schwarzen Staubwolken den Kohlenschacht hinunter in den Keller warf oder rutschen ließ.
Es ist eine halbe Ewigkeit her, ich habe das selbst einmal erlebt als Kindergartenkind. Wir waren mit der ganzen Familie im Harz und besuchten die Familie eines Cousins meiner Mutter. Ohnehin waren wir Kinder aufgeladen von allerlei Schauergeschichten, denn wir waren in der Nähe der Brockens und die Großen erzählten uns Kindern von den jährlich stattfindenden Hexentreffen dort. An einer Souvenirbude kauften wir zwei kleine Hexen aus Holz, beklebt mit Stoff und Kunsthaar, auf einem Besen reitend. Zum Brocken selbst konnten wir nicht, der lag jenseits der Grenze und dem Todesstreifen in der ehemaligen DDR, dem Reich des Bösen nahekommend. Da musste man schon eine Hexe auf einem fliegenden Besen sein, um diese Grenze zu überwinden.
Doch das war nicht alles. Bei einem Waldspaziergang stauten mein Bruder und ich einen kleinen Bach auf. Als wir weitergingen entfernten wir diesen Staudamm aus Steinen, Stöcken und allerlei Laub nicht. Nun ist die kindliche Phantasie groß und das schlechte Gewissen packte uns…
Was, wenn der Bach durch das Aufstauen über die Ufer träte, was, wenn er den daneben liegenden Waldweg überflutete, was, wenn… wir konnten uns die schlimmsten Szenarien ausmalen, trauten uns aber nicht, jemandem davon zu erzählen.
Wie dem auch sei: Hexenphantasien und schlechtes Gewissen nagte an mir, als die Kinder, der der Familie, die wir besuchten, uns unter dem Vorwand uns etwas Tolles zeigen zu wollen, in den Keller des alten Hauses lockten. Die Jungs waren um einiges älter als ich und wussten, dass sie sich einen riesigen Spaß mit mir, dem kleinen, naiven Bub leisten konnten.
Denn plötzlich donnerte und polterte es. Ich bekam Panik, dachte, das Haus stürzt ein oder sonst was. Aus einem Schacht an der oberen Wand prasselten unaufhörlich Eierkohlen in den Keller. Der Kohlenmann war gekommen.dabdoub188_v-standardBig_zc-3ad1f7a1
Längst waren die anderen Jungs weg, sie hatten sich wohl irgendwo versteckt. Ich fürchtete, den Weg aus dem Keller zurück nicht zu finden und irrte panisch herum. Immer mehr Kohlen kamen, mehr und noch mehr.
Irgendwann heulte ich Rotz und Wasser, die Jungs hatten ihren Spaß und zeigten mir den Weg nach oben. Ich versteckte mich einige Zeit auf dem Klo. Nie hätte ich meinen Eltern erzählt, was im Keller vorgefallen war, so harmlos es auch war, ich habe mich – auch wegen des Staudamms und des womöglichen Millionenschadens – viel zu sehr geschämt.
Die Angst aber vor dem Kohlenmann blieb. Ich war nie wieder im Harz, vermied alte Keller und war heilfroh, dass wir in meinem Elternhaus in Hanglage keinen richtigen Keller hatten, und schon gar keinen alten, muffigen, dunklen.
Den hatte mein Großvater unter seiner Apotheke in der Stadt. Es war ein uralter Keller, über den in den 50er Jahren ein typisches Nachkriegshaus gesetzt worden war, als es darum ging, schnell Wohnraum zu schaffen und die zerbombten Städte an Rhein und Ruhr wieder auf Vordermann zu bringen.
Mein Opa warnte uns, nie allein in den Keller zu gehen und schon gar nicht an irgendwelche Schachteln, Dosen und Flaschen. Was immer er dort unten aufbewahrte: Wir waren gewarnt und hielten uns daran. Nur in seiner Begleitung durften wir hinabsteigen. Irgendwo standen braune Flaschen mit geschliffenen Glasstopfen, von denen ich heute noch als Erinnerung eine zu Hause habe. Apotheker hatten in der Zeit meiner Kindheit halbe Chemielabore, mixten viele Salben und Säfte selbst, führten Schwangerschaftstests durch und demzufolge war für uns Kinder strengstes Kellerverbot.
Nur selten stieg er mit uns hinab und irgendwo ganz hinten, am Ende des alten Flures leuchtete von oben ein heller Schein Tageslicht. Ein Kohlenschacht.
opaDer Häuserblock, in dem sich die Apotheke befand, wurde begrenzt durch drei Straßen, in diesem Dreieck standen die vierstöckigen Häuser, der sich bildende Innenhof war durch hohe Mauern zerteilt. Es gab Schuppen und Hütten, Werkstätten und direkt hinter dem Haus, in dem meine Großeltern auch wohnten, den Kohlen- und Kartoffelhändler Hoppe. Von der Terrasse, die über einen Anbau errichtet worden war, konnten wir in den Hof der Hoppes schauen: Kohlenmänner in großer Zahl.
Hoppe, dem auch das Haus gehörte, war der Vermieter meiner Großeltern und demzufolge eine ungeheure Respektperson. Da machte man schnell einen schlanken Fuß. Ohnehin sah er nicht gern, wenn sich viele Leute auf der Terrasse befanden, irgendwie war die ganze Sache nicht wirklich koscher. Vermutlich weder statisch geprüft noch genehmigt. Einmal hat er einen Riesenzirkus veranstaltet, als meine Großeltern ein Planschbecken dort aufgestellt haben. Das Gewicht, so fürchtete Hoppe, hätte gut dazu führen können, dass das Dach einkrachte.
Kohlenmänner haben mir immer einen Heidenrespekt eingeflößt. Und ja: Ich hatte lange Zeit Angst vor ihnen. Kinder gehören eben nicht in den Keller, wenn der Kohlenmann kommt. Zum einen ist die Anlieferung der Kohlen eine große Sauerei, es staubt enorm. Zum anderen ist es wirklich nicht ganz ungefährlich, wenn die Kohlen zentnerweise durch das Fenster oder einen Schacht in den Keller geworfen wurden – ohne Rücksicht, ob vielleicht gerade jemand darunter stehen könnte.
Und genau aus diesem Kontext stammt das Wort Kollemosch. Es ist in eigentümlicher Begriff, den ich nur aus dem Wortschatz der Familie meiner Schwiegermutter kenne. Sie stammt aus dem südlichen Rheinland, dort, wo es hinauf in die Eifel geht. Und dort hieß es früher immer, der Kollemosch sei im Keller. Und wer nicht brav sei (damit waren die Kinder gemeint), der komme zum Kollemosch in den Keller, und der nehme einen dann vielleicht auch mit.
Pädagogisch irgendwie angesiedelt zwischen Struwwelpeter, Rattenfänger, Krampus, bösen Hexen und ähnlichen Schreckensgestalten aus Kindergeschichten diffamiert das Wort Kollemosch vielleicht die Angehörigen eines aussterbenden Berufs: Die Kohlenmänner. Das ist irgendwo anzusiedeln bei herabwürdigen Berufsbezeichnungen wie der Krämerseele, dem geschwätzigen Waschweib, dem Pfaffen oder den Schnüfflern und Bullen. Es hat aber nichts mit Rassismus und der Diskriminierung von Menschen mit dunkler Haut zu tun.
Der Kollemosch – der Kohlenmann – brachte früher die Kohlen ins Haus. Ich wünsche manchmal, zu uns würde heutzutage auch mal en Kollemosch kommen. Kohle kann man schließlich immer gebrauchen, finden Sie nicht?