Die Berliner Bloggerin Anna Schmidt hat eine Blogparade Schreiben gegen Rechts ins Leben gerufen. Eine Weile habe ich darüber nachgedacht, wie daran teilzunehmen, was schreiben?
Einfach drauf los?
Irgendwas Politisches muss es wohl sein bei dem Thema. Muss es?
Ein Statement?
Wiederholen, was viele schon hundertfach gesagt oder geschrieben haben?
Das alles passt nicht in das Konzept meines Blogs. Statt dessen folgt eine ganz banale Alltagsgeschichte – ein Beispiel, das zeigt, wie Menschen denken (oder auch nicht) und handeln; und wie schnell und einfach sie sich verführen lassen in ihrer unreflektierten, verkürzten Wahrnehmung, wie sie Ereignisse des Weltgeschehes auf ihre kleine, überschaubare Welt umsetzen. Ein historisches Beispiel. Das entnehme ich einem Textmanuskript, an dem ich gerade arbeite.
Zum Verständnis: Ort des Geschehens ist Landshut in Niederbayern im Jahr 1898.
Seit acht Jahren lebt eine Familie italienischer Zuwanderer dort, die vor der Armut aus der Gegend von Treviso nach Bayern ausgewandert sind. Denn dort gibt es Arbeit und Geld, Schulen für die Kinder und die Hoffnung, vielleicht etwas zu sparen, um im Alter in die Heimat zurückkehren zu können.
Heute würde man sie wohl als Wirtschaftsflüchtlinge beschimpfen. Sie verrichten schwere Arbeit in den Fabriken, Arbeit, für die sich kaum ein Deutscher finden ließ.
Hier ist ein kurzer Einblick in ihre Geschichte:
…Sie gewöhnten sich nach und nach an das Leben in der Fremde ebenso, wie an die unwirtlichen Verhältnisse, in denen viele von ihnen hausten. Die Kinder, die in Deutschland geboren wurden, sprachen besser deutsch als italienisch, sie waren mit den einheimischen Kindern befreundet. Viele trugen sogar deutsche Vornamen.
Aber obwohl die zugereisten Italiener noch immer von vielen Deutschen verächtlich „Katzelmacher“ geheißen wurden, sprach man von meiner Großmutter schon längst als „Frau Bigatti“. Man mochte sie und man respektierte sie. Ihr Ansehen in Landshut hatte sie sich durch ihre Begier, die Sprache zu lernen, ihren italienischen Stolz und ihre Würde erkämpft.
Trotz schwerster Arbeit konnte ihnen niemand die Zuversicht, es zu einem bescheidenen Auskommen zu bringen, noch ihre Lebensfreude nehmen.
Nur einmal, im Jahre 1898 kam es zu einer Situation, in der Hieronymo fast die Entscheidung getroffen hätte, mit seiner Familie Deutschland wieder zu verlassen.
Als er eines Morgens zur Arbeit ging, wichen ihm die Nachbarn, die er auf der Straße traf, aus Er sah sie an, doch die Menschen senkten ihre Blicke zu Boden. Auch in der Fabrik mied man ihn. Ohne zu verstehen, was die Männer sprachen, war offensichtlich, dass sie hinter seinem Rücken tuschelten. Über ihn?
Seit fast acht Jahren arbeitete er hier, er war mit allen gut ausgekommen. Was hatten sie auf einmal gegen ihn? Woher kam diese plötzliche Feindaeligkeit?
Ein paar Mal schnappte er das Wort „Italiener“ auf – es musste also irgendetwas mit ihm zu tun haben, wovon die Fabrikarbeiter leise sprachen. Da war er sich sicher.
Einem anderen Italiener, der mit seiner Familie auch aus Oberitalien nach Bayern gekommen war, erging es ähnlich. Giuseppe, der in der Fabrik allerlei Handlangerdienste verrichtete, konnte es sich aus dem, was er an deutscher Sprache gelernt hatte, schnell zusammenreimen, dass die Männer davon erzählten, dass irgendetwas Schreckliches geschehen war. Und ein Italiener hatte Schuld daran. Mehr wusste Giuseppe auch nicht.
Am nächsten Tag wiederholte sich das Spiel. Giuseppe aber hatte mittlerweile erfahren, was passiert war und informierte seinen Landsmann Hieronymo.
Die österreichische Kaiserin Elisabeth, eine gebürtige Prinzessin aus Bayern, war in Genf von einem Italiener ermordet worden. Er hatte sie auf offener Straße eiskalt niedergestochen.
Die Zeitungen berichteten ausführlich und sie nahmen das Attentat zum Anlass, über die Italiener allerlei Böses zu verbreiten. Es wurde viel über das verräterische und feige Wesen aller Italiener geschrieben. Ihre Unordentlichkeit sei die Wurzel für ihren Hang zu Chaos und Anarchie. Das südländische Temperament schließlich mache sie allzeit bereit zur Revolte. Italiener seien stets eine Bedrohung für Ordnung und Frieden, egal, ob im eigenen Lande oder in der Fremde. Genug Beispiele hatte es ja in den vergangenen Jahren gegeben. Im Mai erst, daran erinnerten die Zeitungen, sei es zu einem Massenaufstand in Mailand gekommen, angezettelt von den Anarchisten. Nur das Eingreifen des Militärs unter General Fiorenzo Bava-Becaris habe Schlimmeres verhindert und die Ordnung in Italien wieder hergestellt. Kurzum: Man konnte dem Italiener einfach nicht trauen.
Kaum einer der Arbeiter in der Landshuter Leimfabrik las die Zeitungen. Aber die Nachricht von dem Mord an Elisabeth hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Alle hatten gehört, was in der Schweiz geschehen war. Und ein jeder hatte sich schnell seine Meinung über die Italiener gebildet. Das Ergebnis bekamen plötzlich Hieronymo und seine Familie ebenso wie die anderen Italiener zu spüren, in Landshut wie in vielen anderen deutschen Städten auch, vor allem in Bayern.
Man beobachtete sie argwöhnisch, man redete kaum noch mit ihnen und mied ihre Gesellschaft, wo immer es ging.
Eine Welle an Feindseligkeit brach plötzlich und unerwartet über die Bigattis los. Hieronymo, ansonsten ein friedlich, gemütlicher und duldsamer Mensch, überlegte, das Land wieder zu verlassen. Er wusste zwar nicht viel von den großen Zusammenhängen, aber dass man sie, die Italiener, nicht mehr in Deutschland haben wollte, war mehr als deutlich zu spüren.
Juditha war es zu verdanken, dass er sich umstimmen ließ. Sie dachte gar nicht daran, mit ihren Kindern zurück nach Italien zu gehen. Seit fast Jahren leben sie nun in Landshut. Sie hatten niemanden etwas zu Leide getan. Immer hatten sie sich jeder politischen Meinung enthalten. Die Nachbarn mussten doch bald selbst merken, dass die Bigattis nichts mit diesen Dingen zu tun hatten. Sie waren keine Anarchisten, sie wollten doch nichts anderes, als hart arbeiten, Geld verdienen und in Ruhe und Frieden leben.
Ein Teil ihrer Kinder war in Landshut geboren und ging dort zur Schule. Sie selbst hatte soviel Kraft darauf verwendet, die Sprache und die Gebräuche zu lernen. Das alles wollte sie nicht aufgeben.
„Das geht vorüber“, beschwichtigte sie ihren Mann. „Bald redet schon kein Mensch mehr davon, wirst sehen. Und dann ist alles wieder in Ordnung.“
Und sie behielt Recht – auch wenn es lange dauerte. Täglich erfuhr man Neues aus Genf, wo man dem Attentäter, einem Anarchisten namens Luigi Lucheni den Prozess machte. Erst im November, nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft, wandten sich die Zeitungen wieder anderen Themen zu. Von der vor einigen Monaten noch offen gezeigten Verachtung gegen die Italiener war immer weniger zu spüren. Alles kehrte zu seinem gewohnten Gang zurück.
„Geh lass den Hieronymo in Ruh“, schimpfte an einem Dezembermorgen einer der Arbeiter seinen Kollegen, der bei der Brotzeit wieder einmal angefangen hatte, über die Italiener schlecht zu reden und sie als anarchistische Saubande zu beschimpfen.
„Der Hieronymo ist doch kei’ Anarchist net. Der macht koa Revolution oder sticht da wen ab. Und der Giuseppe scho’ glei’ goa net. A Ruah gebt’s jetzt.“ Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch…
Kaum Parallen mit heutigen Vorkommnissen, oder?
Heute hasst man modern.
Die Angst ist die Flamme unserer Zeit und die wird fleißig geschürt…
Aus Konstantin Weckers Hexeneinmaleins, 1978.